Ashtavakras Lebensgeschichte

In dem umfangreichen alt-indischen Epos "Mahabharata", das unter anderem auch die berühmte "Bhagavad Gita" enthält, wird die Geschichte eines schwerbehinderten Jungen erzählt, der an Intelligenz viele namhafte Weise seiner Zeit übertraf; sein Name ist Ashtavakra und das bedeutet übersetzt: "Der achtfach Verkrümmte".

Der Weise Uddalaka leitete eine Schule, in der das uralte kosmische Wissen des Veda gelehrt wurde. Einer seiner besten Schüler hieß Kahoda und Uddalaka war so zufrieden mit seinem Schüler, dass er ihm seine Tochter Sujata zur Frau gab.

Als Sujata schließlich schwanger wurde, entstand in ihr der Wunsch, dass ihr Kind sämtliche Weise der damaligen Zeit übertreffen sollte. Deshalb begann sie – zusammen mit dem ungeborenen Kind – bei dem von Uddalaka und Kahoda gegebenen Unterricht dabei zu sein und den vedischen Rezitationen zuzuhören.

Eines Tages, während gerade Sujatas Ehemann Kahoda Unterricht hielt, sprach plötzlich das Baby von innerhalb des Mutterleibes und sagte rundum vernehmlich: "Das ist aber nicht die rechte Art, den Veda zu rezitieren, Vater!". Kahoda fühlte sich durch diese vor all seinen Schülern gesprochenen Worte in seiner Ehre als Lehrer gekränkt und verfluchte seinen Sohn mit den Worten: "Du sollst behindert geboren werden!".

Sujata nahm diesen Zwischenfall nicht besonders ernst und war weiterhin voller Ehrgeiz in Bezug auf ihr Kind. Um dem Kind die beste Ehrziehung bieten zu können, wollte sie mehr Geld besitzen und bat ihren Mann, den König Janaka aufzusuchen, der gerade ein großes Feuer-Opfer (Yagya) durchzuführen beabsichtigte. Sie hoffte, dass der König ihren Gemahl als Priester für dieses Opfer einstellen und ihn gut dafür bezahlen würde.

König Janaka empfing den Brahmanen Kahoda freundlich und respektvoll, sprach aber voller Bedauern zu ihm: "Leider bin ich schon seit einigen Jahren nicht in der Lage, dieses Yagya durchzuführen. Wie aus dem Nichts erschien hier ein Brahmane namens Bandhi und bat mich, das Yagya erst dann ausführen zu lassen, wenn die dafür engagierten Brahmanen ihn in einem Redewettbewerb über die Natur der höchsten Wirklichkeit besiegen konnten - ein solcher Wettstreit zwischen den einsichtsvollen Kennern der Wirklichkeit beinhaltet nicht blosses Reden, sondern ist in der Tat ein Wettkampf zwischen den höheren Bewusstseinskräften der Beteiligten. Ausserdem stellte er als Bedingung auf, dass diejenigen Brahmanen, die sich ihm zum Redewettstreit stellten und unterlagen, ertränkt werden sollten. Da ich keinem Brahmanen ein Begehren verweigere, stimmte ich zu und seitdem sind schon zahlreiche gelehrte Brahmanen dem Tod durch Ertrinken zum Opfer gefallen. Nun liegt es an dir, ob du die Herausforderung annehmen willst."

Kahoda war bereit, sich dem Rededuell zu stellen, aber er unterlag und wurde im nahe gelegenen Fluss ertränkt. Als die nunmehr verwitwete Sujata davon hörte, bereute sie es sehr, ihren Mann zu König Janaka geschickt zu haben. Einige Monate später brachte sie einen Jungen zur Welt, dessen Gliedmassen an acht Stellen verkrüppelt waren und der daher den Namen Ashtavakra erhielt.

Der kleine Ashtavakra wurde von seinem Grossvater Uddalaka erzogen. Er erwies sich als außergewöhnlich intelligent und sein Grossvater liebte ihn sehr und war stolz auf ihn. Schon im Alter von zwölf Jahren hatte er alles Wissen gemeistert, dass sein Grossvater ihm zu vermitteln vermochte. Zu dieser Zeit erfuhr er vom traurigen Schicksal seines Vaters und vom Yagya des König Janaka, das noch immer nicht durchgeführt werden konnte, weil niemand Bandhi im Redekampf zu bezwingen vermochte.

Eines Nachts rannte Ashtavakra von zuhause fort und machte sich auf den Weg zu König Janaka. Als die Palastwachen seinen verkrümmten Körper sahen, machten sie sich über ihn lustig. Ashtavakra begegnete ihrem Spott mit den Worten: "Beurteilt einen Menschen nicht nach seiner äußeren Erscheinung und seinem Alter, sondern nach seinem Wissen – sagt eurem König, dass jemand bereit ist, gegen Bandhi anzutreten!"

Als der König herbeikam, war er verwundert, einen kleinen behinderten Jungen vor sich zu sehen. Er stellte ihm einige Fragen und war sogleich von seinem Wissen beeindruckt. Sehr bald waren die Vorbereitungen für den Redewettstreit getroffen. Als die gelehrten Zuschauer den verkrüppelten Jungen auslachten, sagte Ashtavakra zornig: "Ich hätte nicht gedacht, dass eine Versammlung von sogenannten Weisen nicht besser ist als eine Bande Schusterjungen, die einen Menschen nach der äußeren Erscheinung seiner Haut und nicht nach seinem Wissen beurteilen."

Zur großen Überraschung der Zuschauer besiegte Ashtavakra den Brahmanen Bandhi in kürzester Zeit. Ashtavakra forderte nun König Janaka auf, als gerechte Vergeltung den Mörder seines Vaters ertränken zu lassen. Da aber enthüllte Bandhi seine wahre Identität und sprach: "Ich bin der Sohn von Varuna, des Gottes der Gewässer. Ich bin auf der Erde erschienen, um im Auftrag meines Vaters die besten der opferkundigen Brahmanen von hier zu ihm zu bringen, damit sie sein zwölf Jahre dauerndes Yagya durchführen. Die einzige Art und Weise, sie zu meinem Vater zu bringen, war, sie im Redewettstreit zu besiegen und dann dem Wasser zu übergeben. Mein Vater hat jetzt sein Yagya beendet – lasst uns nun zum Flussufer gehen und miterleben, wie die Brahmanen wieder aus den Wassern des Flusses emporsteigen.

Die Menschen eilten zum Ufer des Flusses und sahen zu ihrer großen Verwunderung all die weisen Männer gesund und munter aus dem Wasser heraussteigen. Auch Kahoda erschien und umarmte seinen an Wissen so reichen Sohn Ashtavakra. Er gab öffentlich zu, dass sein Sohn ihn an Intelligenz und Einsicht in die Wirklichkeit weit übertreffe.

Danach bat Bandhu Ashtavakra, in die Wasser des Flusses einzutauchen und durch die Gnade seines Vaters auf diese Weise seinen Körper wiederherzustellen. Ashtavakra tauchte im Fluss unter und trat als gänzlich gesunder und gutaussehender junger Mann wieder aus den Fluten hervor. König Janaka belohnte Ashtavakra und Jahoda fürstlich. Uddalaka war voller Freude darüber, dass sein Enkel alle Weisen und Erleuchteten seiner Zeit an Wissen übertroffen hatte und Sujata umarmte voller Freude ihren vollkommen gesundeten Sohn und ihren wiedergewonnenen Ehemann.